Christine Winkler

Zu Christine Winkler: La Libera

Ein Raum mit einem Grundriß in der Form eines griechischen Kreuzes, begrenzt durch ebene Boden-, Wand- und Deckenflächen, woraus eine eindeutige Abgrenzung des Innenraumes vom Außenraum resultiert.

 

In die Wandflächen eingeschnitten: rechteckige, aus den Symmetrieachsen des Raumes verschobene und bis zum Boden reichende (Tür-)Öffnungen. Durch jeweils eine Öffnung dringt von außen Licht in den Innenraum.

 

Als eine der während der Arbeit auftauchenden Erinnerungen benennt Christine Winkler Andrea Palladios Villa Almerico-Valmarana, besser bekannt als La Rotonda. Sie ist Palladios einziger vollständig freistehender Zentralbau, auf einem Hügel „weniger als vier Meilen vor der Stadt(Vicenza) gelegen. Die Lage gehört zu den anmutigsten und erfreulichsten, die man finden kann. Das Haus liegt auf einem leicht zu besteigenden Hügel, der auf der einen Seite vom Bacchiglione, einem schiffbaren Fluß begrenzt wird und auf der anderen Seite von weiteren lieblichen Hügeln umgeben ist, die wie ein großes Theater wirken und alle bestellt werden, reichlich Früchte sowie ausgezeichnete und gute Weinreben tragen. Da man von jeder Seite wunderschöne Ausblicke genießt, worunter einige die nahe Umgebung erfassen, andere wieder weiterreichen und wieder andere erst am Horizont enden…“ 1

 

Dem Betrachter, vertreten durch das objektive Auge der Kamera, müßte sich demnach die grandiose Szenenfolge mit einer sich zeitlich nur minimal veränderlichen Landschaft als einzigem Darsteller bieten. Aber diese Bilder verweigert die Künstlerin dem Beschauer, sein Blick findet an der unter seinem Horizont liegenden Landschaft keinen Halt, er gleitet hinweg über das nicht sichtbare Naturtheater. An seine Stelle setzt Christine Winkler die karge Strenge des Innenraumes2, dessen Wandflächen sich in differenzierten Grautönen darstellen. Obgleich sich der Blick wieder nach außen wendet, erfährt seine Reichweite den Widerstand an den Außenwänden. Durch die (in jedem Viertel) einzige ins Freie weisende Öffnung dringt helles Licht in den Raum. Im Bereich der Türleibung scharfkantig begrenzt, dehnt es sich in der reflektierenden Bodenzone zum raumbestimmenden neuen Hauptdarsteller aus.

Vergleicht man die Fotos der Reihe nach3, so stellt man fest, daß sich die Fläche des einfallenden Lichtes etwa gleichmäßig von links nach rechts bewegt. Ist diese Bewegug abhängig vom Betrachter, bleiben in den Fotos tages-oder jahreszeitlich abhängige Veränderungen ausgespart.4

Christine Winklers radikale Vereinfachung des im Modell nachgebauten Raumes bewirkt im Betrachter so etwas wie den Wunsch nach einer Ergänzung oder gar Vollendung in der Fülle der italienischen Renaissance, und zwar im Sinne von Marcel Duchamps Theorie, „daß ein Kunstwerk erst existiert, wenn der Betrachter es angeschaut hat.“5 Es obliegt demnach dem Betrachter, das Kunstwerk zu vollenden. Und er kann das nur in einer für ihn ganz speziellen Weise, indem er seine Erinnerungen, sein Wissen und seine schöpferische Phantasie mobilisiert. Dann tauchen vielleicht in den leeren Fenstern Giogiones Gewitter, da Vincis fernliegende Fensterlandschaften der Madonna Litta oder gar die Kalenderbilder der Brüder von Limburg auf.

 

Die Vollendung des Kunstwerks durch den Betrachter fordert von diesem eine schöpferische Aktivität in Freiheit ein. Joseph Beuys hat das auf den Punkt gebracht: „ Im Wesen des Menschen liegt seine Freiheit, und in ihr ankert seine Kreativität, d. h. seine Fähigkeit Kreator = Schöpfer zu sein.“ work»

 

1 Andrea Palladio: Die vier Bücher zur Architektur, BuchII, Kapitel 3: Von den Stadthäusern

2 Palladios zentraler Innenraum hat einen kreisförmigen Grundriss und ist mit einer Kuppel überwölbt. Das Auge der Kuppel war ursprünglich nach oben offen und ein Abfluß führte zu einem Auffangbecken im Keller. Außerdem weist der Raum reichen Freskenschmuck auf.

3 Eigentlich bilden die vier Fotografien einen in sich geschlossenen Zyklus, in dem man an jeder beliebigen Stelle ein- oder aussteigen kann.

4 Trotzdem überlagern sich drei unterschiedliche Zeitebenen: die Tageszeit, die Jahreszeit und die zyklische der Bildbetrachtung.

5 Zitiert nach Serge Stauffer: Marcel Duchamp – Interviews und Statements, 1992, S 81f.